Entwurf des Wahlprogramms der LINKEN

Feminismus wieder unter „Ferner Liefen“?

Leider ist es so, dass das, was ich 2011 geschlechterkritisch zum Programmentwurf der Linken sagte, für den Entwurf des Wahlprogramms auch noch gilt.

Wenn also die LINKE ihre Haltungen recycelt, tue ich das auch mit meinem Text. Hier ist er (veröffentlicht in Wolfgang Gehrcke (Hg), Alle Verhältnisse umzuwerfen … Eine Streitschrift zum Programm der LINKEN), PapyRossa Verlag 2011
—–
Die Umwälzung der Geschlechterverhältnisse und das Programm der LINKEN

Fehlt da nicht was?

– Naja, es fehlt mal wieder ein Geschlecht!
Ich höre schon den Widerspruch: stimmt doch gar nicht! Diesmal kommen Frauen relativ häufig vor; die Gleichstellung ist nicht unter den Tisch gefallen!
– Die Frauen meine ich auch nicht, ich meine die Männer!
Mein imaginiertes linkes Gegenüber protestiert sofort: „Wieso Männer? Männer sind doch immer gemeint, Männer sind doch nicht auf besondere Weise benachteiligt!“

Ach nein? Männer haben keine besonderen Probleme? Ihre Lebenserwartung ist geringer als die der Frauen, die Selbstmordrate höher, physische Gewalt geht meist von Männern aus und sie sind die Mehrzahl der Opfer. Sie sind als Homosexuelle stigmatisiert und sie bekommen nur selten Teilzeitstellen, wenn sie Vater werden. Keine besonderen Probleme? Doch! Aber geht das die Feministinnen etwas an?

Natürlich, Männer kommen vor, sie beschreiben ihre Welt und sie finden ihre Lösungen. Aber als Geschlechtswesen sind sie unsichtbar im linken Programmentwurf; in dieser Frage unterscheidet sich die LINKE nicht von der restlichen Gesellschaft. Als Geschlechtswesen verstecken sich Männer hinter dem Allgemeinen. Männer setzen die Norm und folglich müssen sie ihr Geschlecht unter dunkelgrauen Anzügen verstecken, so wie der Programmentwurf die Geschlechterverhältnisse versteckt. So wird verschleiert, dass Frauen und Männer und Menschen jeder anderen Geschlechteridentität in einer bestimmten Geschlechterordnung leben, bestimmte Geschlechterverhältnisse konstituieren und reproduzieren – mit Dominanzen, Herrschaft und Normen. Und das geht die Feministinnen etwas an.

Reicht es also, die besonderen Probleme der Frauen aufzugreifen wie Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Ungleichheiten im Erwerbsleben, die verbreiteten Benachteiligungen? Reicht der sog. weibliche Blick? Reichen Forderungen nach Geschlechtergerechtigkeit?

Viele Jahrzehnte lang war es für Sozialistinnen und Sozialisten in Ost und West nicht schwer, frauenpolitisch eine gute Figur zu machen. Auf die eklatante Gerechtigkeitslücke, die für Frauen beim Zugang zu Arbeitsmarkt, bei Bildung und öffentlichem Amt, beim Lohngefälle und der Doppelbelastung durch Familie und Beruf, durch den Mangel an Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulen bestand, fokussierten sich die Kritik und die Alternativvorschläge. Im Westen forderte die Linke das Recht auf Erwerbsarbeit für Frauen, den Zugang zu allen Berufen und Aufstiegsmöglichkeiten, gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit und den dazu unbedingt notwendigen Ausbau der Kinderbetreuungsangebote; im Osten ging man ohne viel Federlesens an die Umsetzung dieser Vorhaben. Frauenpolitik der Linken, das war die Einforderung all jener Rechte, die die französische Revolution versprochen hatte und die bürgerliche Gesellschaft den Frauen bis dahin verweigerte, und war darüber hinaus der Kampf für die Anerkennung besonderer Bedürfnisse von Frauen, die gleichberechtigt neben denen von Männern stehen sollten. Aber mittlerweile fordert auch Christina Köhler Aufstiegsmöglichkeiten für Frauen, Angela Merkel tritt für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein und die CDU sieht sich zähneknirschend, genötigt, die von der EU vorgegebenen Ziele nach Verringerung des Lohnabstands von Frauen zu Männern anzustreben. Was bleibt da für die Linke?

Was sozialistisch war und was feministisch, das lag lange im Streit. Die Parteien und Gewerkschaften der Arbeiterbewegung in Ost und West verlangten die Unterordnung der Frauenbelange unter die allgemeinen sozialen Belange. Der Kampf der Frauenbewegung für sexuelle Selbstbestimmung und für die Gleichberechtigung homosexueller Lebensweisen war der Arbeiterbewegung suspekt. Die Versöhnung von Sozialismus und Feminismus war nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems ein entscheidendes Projekt der Erneuerung der Linken. Es sollte keine Hierarchie der Kämpfe um Befreiung geben und keine Unterordnung der Forderungen von Frauen. Zumindest in der Theorie wurden die patriarchalen Geschlechterverhältnisse als komplexes Unterdrückungsverhältnis nicht nur gegen Frauen, sondern auch gegen jede abweichende sexuelle Identität begriffen.

Ist die sozialistische Bewegung damit beim Feminismus angekommen? Seit dem Vereinigungsprozess der beiden linken Parteien PDS und WASG zur LINKEN war es nicht einfach, feministisches Gedankengut und ebensolche Politik in der Programmatik zu verankern. Die Programmatischen Eckpunkte und der Prozess ihres Entstehens legten davon Zeugnis ab. Die große und wichtige Politik, die darin niedergelegt wurde, im Osten geprägt durch die Erfahrungen im Sozialismus, im Westen v.a. durch die Gewerkschaften, hatte kein weibliches Gesicht. Schnelle Verbesserungsversuche durch Einbau von Frauenforderungen hübschten den ersten programmatischen Versuch der neuen LINKEN auf, allerdings, wie Frigga Haug formulierte: „Es war mit der Geschlechterfrage wie mit der Petersilie, die man am Schluss nicht vergessen darf.“

Nun liegt der Entwurf des zweiten programmatischen Dokuments vor. Auf den ersten Blick ist klar: Die Petersilie wurde nicht vergessen. Ein Verständnis für die sich dramatisch wandelnden Geschlechterverhältnisse in Deutschland, West- und Osteuropa oder gar der Welt und die Konsequenzen daraus, auch für linke Politik, ist allerdings nicht erkennbar. Politik ist aber niemals geschlechtsneutral. Politik wird immer von Männern und Frauen gemacht. Sie ist beteiligt an der Konstruktion der Geschlechterrollen, die sagen, was männlich und weiblich ist, was von Frauen und Männern erwartet wird und welchen Platz in Gesellschaft und Familie ihnen zugewiesen ist. Sie nimmt Einfluss darauf, welche Grade der Abweichung von den Geschlechterrollen es geben soll, auch was Norm und was Abweichung ist. Sie bestimmt die Freiheitsgrade für Selbstverwirklichung und Vergesellschaftung. Politik, die geschlechtsneutral daher kommt, ist im harmlosesten Falle unreflektierte Politik, im schlimmsten gut getarnte patriarchale Politik. Gesellschaftliche Entwicklung ist immer auch Entwicklung der Geschlechterverhältnisse, egal ob sie bewusst gestaltet werden oder sich hinter dem Rücken der Beteiligten formieren. Wer Gesellschaft bewusst verändern und gestalten will, wer eine andere Politik will, wer eine menschlichere Zukunft will, muss Politik geschlechterbewusst, geschlechtersensibel entwickeln und sogar das Konzept der Konstruktion der Geschlechter ideologiekritisch hinterfragen.

Feministische Politik gründet auf der Analyse und Kritik der Geschlechterverhältnisse. Frigga Haug bezeichnet Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse. Sie macht dabei deutlich, dass es nicht um Verhältnisse von Frauen zu Männern oder gar von Mann zu Frau geht, sondern um – an Marx angelehnt – „bestimmte notwendige gesellschaftliche Verhältnisse, die Menschen in der Produktion ihres Lebens eingehen. Diese entsprechen einer bestimmten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte. Sie prägen Struktur, Kultur und Bewusstsein der Gesellschaft“. Der Begriff soll helfen, die Einspannung der Geschlechter in die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch zu untersuchen. Die Geschlechterverhältnisse bestimmen unmittelbar die gesellschaftliche Arbeitsteilung und definieren den weiblichen und männlichen Platz in der Produktion der Güter und Dienstleistungen sowie die Verteilung des Ertrags, vor allem aber die weibliche und männliche Rolle bei der Produktion und Reproduktion der wichtigsten Produktivkraft, der menschlichen Arbeitskraft.

Patriarchal oder nicht?

Geschlechterverhältnisse mit der Dominanz des männlichen Geschlechts über das weibliche (und alle Abweichungen von der Norm) konstituieren ein Jahrtausende altes Herrschaftssystem, das Patriarchat. Trotz aller Modifizierungen in den Ländern des Westens durch Gleichstellungspolitik ist diese Dominanz bis heute weltweit nicht in Frage gestellt. Umso verwunderlicher, dass der Begriff Patriarchat im ganzen Entwurf nicht einmal vorkommt. Das ist skandalös, denn nicht nur, dass es kein Verbrechen gibt, das gegen Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit verübt wurde, das Frauen nicht erleiden mussten, weil sie Frauen sind, sie sind auch in allen Zwangs- oder Elendslagen stärker betroffen als die vergleichbaren Männer. Und sie sind millionenfach Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Menschenhandel und Sklaverei, Zwangsprostitution und Frauenmord. Patriarchale Verhältnisse waren und sind die notwendigen Grundlagen für die Herausbildung aller bisherigen Ausbeutungsverhältnisse. Dass das Patriarchat in diesem Entwurf nicht vorkommt, ist umso verwunderlicher, als die Herausbildung der PDS auf der Überwindung des Stalinismus und seiner Wurzeln und auf einer gründlichen Analyse des Patriarchats fußte, auch jener patriarchalen Verhältnisse, die in den sozialistischen und kommunistischen Arbeiterparteien aufgehoben waren. Insofern kann eine Berufung auf die proletarischen Wurzeln der LINKEN nur kritisch, patriachatskritisch nämlich, geschehen.

Für die ehemalige Bundesrepublik werden die Ergebnisse einer langwierigen Diskussion des sog. Haupt- und Nebenwiderspruchs ignoriert, die in dem Anspruch mündeten, nicht nur Klassenverhältnisse zu analysieren, sondern auch Geschlechterverhältnisse, sowie die Herrschaftsmechanismen, die daraus entspringen, die darin eingeschrieben sind. Es ging auch darum zu erkennen, zu entlarven, wie über die Bevorteilung der Männer und die Abhängigkeit der Frauen eine soziale und ideologische Basis geschaffen wurde, die den modernen Kapitalismus trug.

Diese Auseinandersetzung, in Ost und West je unterschiedlich, erfordert immer ein grundsätzliches, selbstkritisches Umdenken, die Erkenntnis der eigenen Prägung durch die Geschlechterrolle und derjenigen Diskriminierungen, die Dissidenz zur Geschlechternorm, sexuell oder politisch, mit sich bringt.

Ohne Analyse der geschlechtlichen Herrschaftsverhältnisse, also ohne Patriarchatsanalyse bleibt die Analyse der Krise des kapitalistischen Systems, die längst eine Zivilisationskrise ist, unvollständig. Keinesfalls aber lässt eine Analyse der Krise des Patriarchats den Gedanken gültig stehen, dass eine Emanzipation von Frauen über eine Gleichstellung mit den Männern möglich wäre. Die Analyse der Geschlechterverhältnisse als grundlegende gesellschaftliche Verhältnisse ist daher Grund und Ausgangspunkt für die Forderung an ein linkes Programm, die Geschlechterfrage in allen Politikfeldern immer mit zu denken, mit zu analysieren und in jegliche Politik einzubauen. In dem Entwurf hingegen läuft alles auf das Ziel der Gleichheit der Geschlechter hinaus. Die Befreiung der Frauen, ihre Emanzipation wird nur als Gleichstellung mit den Männern gedacht, ist offenbar mit der Gleichstellung mit den Männern beendet. Ganz zu schweigen von der notwendigen Emanzipation der Männer, der kein Gedanke gewidmet wird.

Bevor ich im Folgenden gesellschaftliche Widerspruchsfelder herausgreifen will, die der Programmentwurf stiefmütterlich und damit unzureichend behandelt, mache ich mich daran, die Form des Entwurfs zu kritisieren, darauf hinweisend und erklärend, dass sich auch in der Form Geschlechterverhältnisse ausdrücken.

Träumen wir also…!

Beim Lesen des Entwurfs schwand die Leselust mehr und mehr. Dabei ist dieser Entwurf nicht schlechter geschrieben als andere Parteiprogramme. Warum ist das so? Warum werden Programme ohne Leidenschaft, ohne Begeisterung, Enthusiasmus und Liebe geschrieben, ohne Gefühl?

Diese trockene Sachlichkeit des Entwurfs spiegelt die patriarchale Abspaltung des Gefühls wider, das als weiblich, weibisch gilt; sie widerspiegelt unkritisch übernommene patriarchale Werte und Vorstellungen, die die Welt in eine sachliche und eine gefühlvolle spalten, das eine wertvoll und geachtet, das andere schwach und verschmäht, das eine dem Männlichen zugeschrieben, das andere dem Weiblichen. Doch ohne Gefühl, Gespür, Empathie ist die Welt nicht erfahrbar – und nicht erkennbar. Wut auf die Ungerechtigkeit, Verzweiflung und Trauer über das Elend der Menschen und die gequälte Kreatur, Hass gegen Kriegstreiber, brutale Ausbeuter, Menschenschinder und Folterer, Verachtung für die rücksichtslosen Abzocker und Hütchenspieler der Finanzwelt, Abscheu vor der Selbstgerechtigkeit der Bankmanager und Aktienbesitzer, der Sarrazins und Ackermanns, das alles ist notwendig, um macht- und kraftvoll für Veränderung einzutreten. Und ebenso wenig geht es ohne Liebe zu Kindern, nicht nur den eigenen, Hochachtung vor den Menschen, die mit Würde und Ehrlichkeit ihren Lebensunterhalt erarbeiten, Ehrfurcht vor dem Leben, der Kreatur und allen Menschen, Freude an der Schönheit der Welt, Lust auf ein Gutes Leben, Gute Arbeit, Freundschaft, Solidarität, Mitgefühl und Nachsicht. Und Hoffnung.

Warum fliegen Menschen nach Mallorca, obwohl sie Flugangst haben und sie am Ziel Ballermann erwartet? Warum überqueren sie in einer engen Blechkiste den Brenner, stehen stundenlang im Stau, um in die Toskana zu gelangen oder an die Ostsee, warum bezahlen sie viel Geld für eine mittelprächtige Unterkunft, obwohl sie zuhause eine schöne Wohnung haben?

Weil es eine Erzählung gibt. Sie heißt „Sonne, Sand und Meer“. Sie erzählt von Zypressen, Kieswegen, duftenden Pinien, Macchia; sie erzählt von reicher Kultur, alten Städten auf Hügeln, etruskischen Ruinen, sie erzählt von Pizza, Pasta alla Mamma, dem Duft des Meeres. Sie erzählt von unüberschaubaren Fischmärkten und Bergen leuchtender Gemüse. Sie erzählt vom Campari nachmittags auf der Terrasse unter Schattenbäumen am Pool. Sie erzählt von herzlichen Menschen, schönen Männern oder Frauen und der Liebe. Wegen dieser oder ähnlicher Träume machen sich Menschen auf. Sie kommen zurück und bereichern ihrerseits die große Erzählung mit Berichten von der eigenen Reise, mit eigenen Erlebnissen, eigenem Glück, eigenen Träumen.

Warum schreibe ich das? Menschen engagieren sich, verändern etwas, setzen sich ein, entwickeln, experimentieren und suchen, wenn sie eine Vorstellung entwickeln, von dem, wie es sein soll. Wenn sie eine Geschichte hören, von dem, wie es sein könnte. Wenn sie in diese Geschichte einsteigen, sie erproben und weiter schreiben können. Die Geschichte wird dadurch schillernder und schöner, immer mehr Menschen möchten dieses Glück erleben, an dieser Geschichte mitzuschreiben.

Wann rebellieren Menschen? Zum Beispiel, wenn ihnen eine Geschichte vorgeschrieben wird. Wenn ihre eigenen Träume in der vorgeschriebenen Geschichte nicht vorkommen. Frauen im Westen unseres Landes haben in den siebziger und achtziger Jahren rebelliert, weil ihnen ein autokratisches und rigides Geschlechterregime vorschreiben wollte, wie sie zu leben haben, wie sie ihre Zukunft gestalten sollten. Die Jungs durften vom Flugzeugkapitän, Rennfahrer und Ingenieur träumen, den Mädchen blieb die Mamarolle. Die Geschichte ihres Lebens war kleinkariert, engstirnig, dumm, rosarot. Nicht bunt wie der Regenbogen und wild. Ihr Begehren kam nicht vor in der Erzählung des Landes und der Menschen. Die neue Frauenbewegung war eine der erfolgreichsten Bewegungen der Nachkriegszeit im Westen. Der Kampf für eine andere Geschichte als der, in der man drinsteckt, für eine lebenswerte Welt, muss als Erzählung, als Traum in den Köpfen entstehen; die andere Geschichte muss denkbar, fühlbar, träumbar sein, sie muss also erzählt werden. Der Programmentwurf spricht von einem zukünftigen Guten Leben. Aber er erzählt keine Geschichte vom Guten Leben.

Menschen mit weiblicher Sozialisation empfinden einen Mangel an Vision, an Vorstellungskraft stärker als Menschen mit männlicher Sozialisation. Sie sind abgestoßen von künstlicher Versachlichung und technokratischem Denken. Sie wollen nicht „Versachlichung“ sondern „Vermenschlichung“ der Politik. Die Schönheit der Erde, Verantwortung, Achtung und Mitgefühl, Weisheit und Engagement und ein Mehr an Leben, ein Mehr an Freiheit und Vertrauen, ein Mehr an Hoffnung und Liebe sprechen die Fantasie an. Wie sonst sollte dem Sozialismus sein graues Image genommen werden?

Widersprüche: Eine Fessel für die Veränderung der Verhältnisse

Der Programmentwurf erkennt nicht, dass die Geschlechterverhältnisse hier und weltweit zur Fessel der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung geworden sind. Im Unterschied zu den politischen Gegnern. Die Neoliberalen haben mit Gender Mainstreaming längst ein Konzept adaptiert und es für ihre Bedürfnisse zurecht gestutzt, das ihnen hilft, die überkommenen Geschlechterverhältnisse zu überwinden, ohne eine grundlegende, sozial fortschrittliche Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu riskieren. Sie haben schneller und umfassender als DIE LINKE verstanden, dass eine Politik, die auf die Veränderung der Geschlechterverhältnisse zielt, nur so entwickelt werden kann, dass sie von Anfang an und in allen Bereichen integriert entwickelt wird. Dazu bedarf es der Kompetenzen, die Gender-Kompetenzen genannt werden. Denn die Geschlechterverhältnisse und ihre Widersprüche treten nicht nur offen zu Tage, sondern sind eingewoben in die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt. Sie haben äußere, sichtbare Seiten und innere, nur durch Analyse und Kritik erkennbare Seiten. Das geht weit über Geschlechtergerechtigkeit als Querschnittsaufgabe hinaus, deren Realisierung sowieso meist den Frauen obliegt, wenn es nicht sogar eine Beerdigung der Aufgabenstellung bedeutet.

Der neoliberalen Politik geht es nicht um mehr Gerechtigkeit, es geht ihr aber sehr wohl um die Einbeziehung von Frauen in die Erwerbsarbeit. Dies erfordert den Umbau der Verhältnisse. Die Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen war im Übrigen ein gutes Mittel, die Löhne und Gehälter weit und breit zu senken. Die Herrschenden wollen Geschlechtergleichheit auch durch Nivellierung der Unterschiede nach unten erreichen. DIE LINKE hingegen kann nicht von mehr Gerechtigkeit reden, ohne die Geschlechtergerechtigkeit einzubeziehen.

Die überkommenen Geschlechterverhältnisse sind aber nicht nur eine Fessel für die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung, sie sind auch eine Fessel für die Entwicklung der fortschrittlichen Kräfte, für die Entwicklung von Alternativen und Auswegen. Dies wären zentrale und vorrangige Aufgaben der LINKEN. Ein Prozess der Politikentwicklung, der Geschlechtergerechtigkeit grundlegend einbezieht, kostet Zeit und Mühe, und es kommt hinzu, dass es Gedanken gibt, die du nicht zu Ende denken kannst, ohne dein Leben zu verändern. Schon die Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen muss zu Kritik und Veränderung der eigenen Organisationskultur und zum Verlust von Macht bei Männern führen. Ja, das fordert auch von Männern, ihr Leben zu verändern.

Widersprüche: Feindbild Feminismus

So erfolgreich die Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre war, so sehr ihre Forderungen im Mainstream von Politik und Gesellschaft angekommen sind und teils umgesetzt werden, so emanzipiert sich junge Frauen fühlen, das Ansehen des Feminismus hat dadurch nicht gewonnen. Im Gegenteil, das Aufgreifen von Frauenforderungen war verbunden mit der sorgfältigen Pflege des Feinbilds der männerhassenden, geifernden, hässlichen Feministin. Moderne junge Frauen wollen so nicht sein, also grenzen sie sich ab. Dabei eifern sie genauso einem vorgegebenen Frauenbild nach wie ihre Großmütter in den Fünfzigern und Sechzigern. Nur dass die Großmütter mit Unterordnung, Einschränkung, Fleiß, Sauberkeit und Maulhalten Chancen hatten, dem Bild zu entsprechen. Den jungen Frauen heute wird gleichberechtigte Teilhabe und Wahlfreiheit versprochen bzw. sie versprechen es sich selbst, die Realität aber bleibt, dass Frauen ein Mehrfaches leisten müssen, um das Gleiche zu erreichen wie Männer, sie dies aber nicht gesellschaftlichen Fußangeln und Bremsen zuschreiben, sondern sich selbst, ihrem Versagen. Die Bremsen und Fußangeln sind ja auch nicht so leicht zu identifizieren wie noch in den Siebzigern. Sie zu erkennen bedeutet eine Menge Analysearbeit.

Die kann beginnen mit dem Frauenbild, dem nachzueifern sei. Für das Selbstzurichtungen notwendig werden, die nur der Chirurg vollziehen kann. Und die Verweigerung ist Ritzen und Bulimie. Das andere Extrem ist die Ganzkörperverschleierung, und es wäre zu fragen, ob Bulimie, Schönheitschirurgie, Nail-Design, Kleidermode und Ganzkörperverschleierung nicht Ausdruck ein und derselben Ablehnung des eigenen Körpers entspringen.

Dies sollte auch ein Frauenbild zum Bewusstsein bringen, das Realitäten spiegelt: Frauen tragen nicht nur einen Großteil der unbezahlten Arbeit, sie tragen auch einen großen Teil der Ökonomie. Sie sind die Hauptakteurinnen in der Ökonomie der Sorge, der Pflege, der Bildung, der Medizin. Dort sind sie eine Macht, eine schlafende Riesin. Die wenigen gewerkschaftlichen Kämpfe lassen es ahnen. Diese gesellschaftlichen Bereiche ächzen unter dem Diktat des Profits, es sind die Bereiche, die als erste davon befreit werden müssen. Die Befreierinnen sitzen nur vermeintlich in den Parlamenten. Aber ohne die Frauen, die dort arbeiten, wird es nicht gehen, und zum Glück werden sie sich dessen mehr und mehr bewusst.

Widersprüche: Männerprobleme

Erinnern wir uns noch an Winnenden? Ein junger Mann nimmt das Gewehr seines Vaters, geht in die Schule und schießt auf Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer. Von Amoklauf wird gesprochen, peinlich wird das Wort Selbstmordattentäter vermieden. Dabei gibt es verblüffende Parallelen. Es sind hier und dort fast ausnahmslos junge Männer . Sie töten, indem oder bevor sie sich selbst töten. Ihr eigener Tod ist Teil ihrer Aktion, er ist medial inszeniert oder setzt auf mediale Inszenierung. Mit ihrem Tod setzen sie ihre Tat absolut; keine Strafe, keine Bewertung, kein Leid der Opfer wird sie mehr erreichen und in der Lage sein, ihre Tat zu in Frage zu stellen. Ihre Tat richtet sich gegen die, die nach ihrer Meinung schuld sind: die Schule, die Lehrer, die Ausländer, die USA, Israel, der Westen, die Ungläubigen und nicht selten die Frauen. Immer gibt es Verletzungen, die objektiv sehr tief sind oder die subjektiv als so tief empfunden werden, dass sie über den Weg eines maßlosen Hasses in diese sinnlosen Taten münden. Die Medien, die Politik geben sich ratlos und finden keine Erklärung. Schnell entsteht ein klareres Bild, wenn wir Schulamokläufe und Selbstmordattentate durch die Brille der Geschlechteranalyse betrachten.

Nehmen wir als Beispiel die palästinensischen Selbstmordattentäter. Die jungen Männer Palästinas leben ein Leben der Zukunftslosigkeit, Aussichtslosigkeit und Bedrängnis, der Sackgassen, der Erniedrigung und Verachtung, ein Leben, das sie täglich ihrer Würde beraubt. Das trifft auch Frauen, auch ihre Würde wird mit Füssen getreten. Selbstachtung von Männern ist aber verschieden von der Selbstachtung von Frauen. Sie hängt bei beiden eng mit ihren Rollen zusammen, die ihnen sehr Verschiedenes abverlangt, Scheitern unterschiedlich definiert und bewertet. Für Frauen und Männer gibt es in diesem Geschlechterregime jeweils unterschiedliche Demütigungen, die nach diesen Vorstellungen nur mit dem eigenen Tod oder dem Mord beantwortet werden können. Bleiben die jungen Männer in ihren alten Rollen verhaftet, so erscheint vielen die einzige Antwort auf die Erniedrigungen die Gewalt, der Massenmord, verursacht durch das Selbstopfer. Der gewaltlose Widerstand, wie er seit vielen Jahren in Bi’lin und anderen palästinensischen Gemeinden geübt wird, erfordert neben politischen Konsequenzen ein verändertes Rollenverständnis und zeigt darüber hinaus, dass dies auch möglich ist. Auch bei den sog. Ehrenmorden sind es die Männer, deren „Ehre“ ihnen verletzt erscheint und den Tod der Frau erfordert. Daran will die Mehrheitsgesellschaft nicht schuld sein. Sie ist es aber, denn der finalen Entehrung gehen die vielen Ehrverletzungen durch tägliche kleine Demütigungen, Beleidigungen, Verachtung und oftmals Verhöhnung voraus. Aber nur verbunden mit Perspektivlosigkeit und Enge sind die gewaltsamen Entladungen begreifbar.

Im Vorkriegsjugoslawien waren Männer auf allen Seiten für Nationalismus und Chauvinismus leicht zu gewinnen, weil sie im Zusammenbruch des Sozialismus nicht auf Ersatzrollen zurückgreifen konnten wie die Frauen. Frauen und Männer haben damals massenhaft ihre Arbeitsplätze verloren. Frauen hatten danach eine alte, aber taugliche und hilfreiche Rolle zur Verfügung, in die sie schlüpfen konnten. Ohne Job sind Frauen immer noch Mütter und Organisatorinnen des häuslichen und familiären Lebens. Sie verlegten ihren Schwerpunkt auf die Subsistenzarbeit, ihre familiären und nachbarschaftlichen Netzwerke wurden wichtig und fruchtbar. Ihr Ansehen stieg. Nicht so bei den Männern. Der Verlust ihrer Erwerbsarbeit, ihres Einkommens, das ja höher war, als das ihrer Frauen und ihnen dadurch in den Familien eine dominante Rolle sicherte, bedeutete den Verlust ihres alten Ansehens; sie wurden nicht nur arbeits-, sondern bedeutungslos, spielten, tranken – und wurden unnütze Esser. So demoralisiert waren sie für den nationalistischen und separatistischen Amoklauf benutzbar. Dieser gab ihnen Bedeutung, Macht. Männermacht, die sich auch gegen die eigenen Frauen richtete, vor allem aber gegen die Frauen des Feindes. Der nationalistische Amoklauf ist im Übrigen immer weniger gefährlich und deshalb wahrscheinlich auch beliebter als der individuelle Amoklauf, der für einen selber ja meist tödlich endet.

Daran wird die enorme gesellschaftliche Sprengkraft deutlich, die in Prekarisierungen der Männerrolle liegen kann. Dies ist weitgehend nicht untersucht, z.B. für den Aufstieg des Nazifaschismus, die Kriegseuphorie vor dem Ersten Weltkrieg, die Schlachten oder das Schlachten in Afrika, die neue deutsche Kriegsbereitschaft; auch nicht bei Jung-Nazis, denen der Nationalchauvinismus das verlorene Selbstwertgefühl ersetzt, und bei Gewaltexzessen in der Bundeswehr.

Bei Frauen und Mädchen verlaufen die Rollenänderungen oft weniger dramatisch. Sie sind gewandt im Anpassen. Das ist der Grund, warum sie in unseren schlechten Schulen besser überleben. Schlauer werden als die Jungs, die massenhaft versagen. Bei jenen steht aber auch mehr auf dem Spiel. Ihre alten Rollen waren machtbesetzt. Macht per Geburt. Ihr Scheitern ist nicht nur Scheitern, sondern Machtverlust. Und ihr Scheitern ist vorprogrammiert, weil gerade die Machtbesetztheit ihrer Rolle einem flexiblen Weg entgegensteht. Frauen und Mädchen steht sogar die Opferrolle offen; selbst diese Rolle verschafft ihnen noch eine fragwürdige Anerkennung. Nicht so bei den Jungs. „Du Opfer!“ ist eine ernst gemeinte Beleidigung, ein Schimpfwort, schlimmer als Arschloch oder schwule Sau. Opfer sein, heißt kampfloses, feiges, unterwürfiges Versagen. Eine Schmach – und das ist die bittere Ironie – die nur durch das Selbstopfer abzuwenden ist.

Auch linke Politik betrachtet Gewalt überwiegend als ein Ausnahmephänomen, nicht als ein geschlechter- bzw. männerpolitisches Grundproblem. Die Veränderung der Männerrolle wäre eine Befreiung. Das Private ist politisch und muss zu Politik werden.

Widersprüche: Guter alter Sozialstaat

Die Zerstörung des Sozialstaats wird mit der sog. Neoliberalen Revolution erklärt. Das unterstellt, der Sozialstaat wäre bis heute so geblieben, wenn diese nicht stattgefunden hätte, man müsse also zur Rettung des Sozialstaats nur die Neoliberalen bekämpfen. Die Krise des Sozialstaats ist aber nicht nur politischer Willkür gezollt, sondern ist eine objektive Entwicklung und hat eine markante Geschlechterdimension.

Aus den sozialen Kämpfen und Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind die Zwillingsbrüder Sozialismus und fordistischer Sozialstaat hervorgegangen – der eine als Ergebnis der russischen und der folgenden Revolutionen, der andere als Versuch, eben jene Revolutionen zu verhindern. Grundlage war ein Klassenkompromiss zwischen den stärksten Gruppen des Kapitals (Rüstungs-, Metall-, Fahrzeug-, Elektro-, Energie- und Chemieindustrie) und den dort beschäftigten (männlichen) Arbeitern bzw. deren Gewerkschaften. Dieser Klassenkompromiss wurde Grundlage der staatlichen Sozialpolitik. An den Löhnen dieser Kerngruppe des Proletariats orientierten sich die Einkommen aller abhängig Beschäftigten – in der Regel mit Abschlägen. Der Kompromiss war für beide Seiten vorteilhaft. Er versprach die Ausweitung der kapitalistischen Konsumgüterproduktion durch höhere Löhne und die Massenkaufkraft der schnell wachsenden Bevölkerung. Die Beschäftigten erlebten einen Wohlstand, wie ihn der konkurrierende Sozialismus nicht in der Lage war zu bieten. Der soziale Frieden im Kapitalismus war gesichert. Die soziale Marktwirtschaft, das fordistische Modell des Klassenkompromisses hat aber nicht nur eine sichtbare Seite, nämlich in der Erwerbsarbeit (Flächentarifverträge, relative soziale Sicherheit, hohe Löhne), sondern auch eine unsichtbare, den Geschlechtervertrag. Insofern ist die soziale Marktwirtschaft nicht nur ein Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit, sondern auch zwischen Kapital, Männern und Frauen.

Das fordistische Familienmodell sah jene strikte Trennung der Geschlechterrollen vor, wie sie im Westen Deutschlands dem Idealbild der kleinbürgerlichen Kleinfamilie der fünfziger Jahre entsprach. Da die Familienväter die einzige ökonomische Stütze der Familie waren, waren die Sicherung von deren Vollbeschäftigung und Vollerwerbstätigkeit und ihrer möglichst ununterbrochenen Erwerbsbiografien notwendig. Frauen verdienten allenfalls hinzu, ihre Löhne waren deutlich geringer, die Sicherheit ihrer Arbeitsplätze und ihre Ausbildung nachrangig, ihre Vollbeschäftigung unerwünscht.

Was wir heute erleben an Abbau sozialer Dienste und Sicherheiten ist die Demontage, die Zerstörung dieses fordistischen Wohlfahrtsstaates, ist die Aufkündigung des Klassenkompromisses durch die Kapitalseite. Der Wohlfahrtsstaat als Gegenkonzept zum Sozialismus wurde nicht mehr gebraucht. Außerdem gieren die entfesselten Finanzmärkte nach Geld, das dem Sozialstaat, in dem viel Geld gebunden ist, entzogen werden muss. Die viel diskutierte Umverteilung von unten nach oben hat nur einen Zweck: die oben mit frischem Geld zu versorgen. Der Sozialstaat erodiert aber auch von innen.

Die Automation und die Informations- und Kommunikationstechnologien haben menschliche Produktions-Arbeit in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in nie da gewesenem Umfang überflüssig gemacht und dieser Prozess schreitet fort, egal ob in der Krise oder im Aufschwung. Weil es dem Kapitalismus nicht gelingen kann und er kein Interesse daran hat, die verbleibende Arbeit gleichmäßig zu verteilen, wurde die Massenarbeitslosigkeit ein unlösbares Problem. Die soziale Basis des Klassenkompromisses schrumpft durch die galoppierende Rationalisierung, weil die Zahl der Träger auf Seiten der Arbeit sinkt und es sinkt das politische Gewicht ihrer Gewerkschaften. Dies wird dadurch verstärkt, dass sich die Tätigkeiten aus der unmittelbaren Produktion in die Bereiche der Entwicklung und Steuerung, in das Überwachen, Vorbereiten, Planen, Verkaufen, Transportieren usw. verlagern, in sog. Dienstleistungstätigkeiten mit deutlich geringerem gewerkschaftlichem Organisationsgrad.

Aber auch die Emanzipationsbestrebungen von Frauen, von Jugendlichen, Homosexuellen und Transidenten, die den fordistischen Wohlfahrtsstaats als Gefängnis empfanden, setzten seine Aufhebung auf die Tagesordnung. Den unsichtbaren Geschlechtervertrag hat die Frauenbewegung aufgekündigt. Es hat also auch von daher keinen Sinn, von einer Rückkehr zum rheinischen Kapitalismus zu träumen, die eigenen Frauen werden dahin nicht zurück wollen. Der gegenwärtige Demografieknick, über den so ausgiebig gejammert wird, ist Ausdruck der Krise des fordistischen Systems, der Überlebtheit der Ernährerfamilie und der Unmöglichkeit Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Die chronische Unterbezahlung der weiblichen Erwerbsarbeit war zwar immer Grund für linke Kritik, aber Linke und Gewerkschaften haben keine Strategien und keine Kampfkraft für ihre Überwindung entwickelt. Dies weckt neoliberale Begehrlichkeiten. Denn Frauen bringen nicht nur neue und interessante Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmale mit auf den Arbeitsmarkt, sondern auch den Gender-Lohnabschlag. In allen Branchen, in denen der Frauenanteil steigt, sinken die Löhne. Diesen „Automatismus“ kennen die Wirtschaftsleute gut und sie nutzen ihn.

Weiten Teilen der Linken fehlt diese Analyse. Und das ist kein Zufall. Eine wichtige soziale Basis der neuen LINKEN, eingebracht vor allem durch die WASG, sind jene Träger des fordistischen Klassenkompromisses auf der Seite der Arbeit. Diese hatten Vorteile nicht nur durch ihre höheren Löhne, sondern auch durch die Bequemlichkeiten einer Versorgerehe, die ihnen zwar die finanzielle, ihren Ehefrauen aber die praktische Versorgung auferlegte. Ihr Teil war die finanzielle Unabhängigkeit, der ihrer Frauen die Abhängigkeit. Ihnen wurde eine Machtposition in der Familie zuteil, Grundlage für jene Verachtung, die häufig bis heute den Frauen entgegen gebracht wird. Sie hatten Freiraum für Engagement in der Gesellschaft, der Politik, dem Verein, denn sie waren von Familienpflichten weitgehend freigestellt. All diese Vorteile wollen sie keinesfalls aufgeben, alle diese Vorteile verteidigen sie auch mit ihrem Kampf gegen die Rente mit 67 , der sich um Altersarmut von Frauen kaum kümmert. Jener westdeutsche Aufstand, der sich in der WASG-Gründung manifestierte, brauchte einen Verarmungsschub der männlichen Arbeiter. Arme Frauen, arme Mütter, arme Witwen waren jahrzehntelang unbedeutend. Erst der in die Hartz-IV-Armut abrutschende, 30 Jahre lang malochende Arbeiter machte ein Gerechtigkeitsproblem sichtbar, nicht die sich zwischen Arbeit, Kindererziehung und Geldmangel aufreibende, schon immer arme alleinerziehende Frau.

Das Festhalten am fordistischen Klassenkompromiss erklärt, warum bei allen Programmentwürfen mit Mühe und Not noch die feministische Petersilie untergebracht werden kann, aber eine durchgehende Berücksichtigung der Geschlechterfrage nicht nur nicht verstanden, sondern häufig auch abgelehnt wird.

Widersprüche: Arbeit

In der LINKEN scheiden sich momentan an der Arbeit die Geister. Es geht um den Stellenwert der Erwerbsarbeit in der Gesellschaft und für die Einzelnen. Auf der einen Seite gruppieren sich Feministinnen um die Vier-in-Einem-Perspektive, auf der anderen Seite wird vermeintlich das Recht auf Erwerbsarbeit und deren Bedeutung verteidigt. Mit der Vier-in-Einem-Perspektive stellen Feministinnen in der LINKEN der Erwerbsarbeit die private Arbeit der Sorge für sich und andere, die Arbeit der Bildung und Selbstbildung und gesellschaftliche bzw. politische Tätigkeit zur Seite und verlangen den gleichen Zugang und die gleiche Verteilung aller Arbeiten sowie der Zeit der Muße auf Männer und Frauen, Erwerbslose und Erwerbstätige. Jüngst entzündet hat sich der Streit um den Satz im Programmentwurf: „Die Grundlage für die Entwicklung der Produktivkräfte ist heute und auf absehbare Zeit die Erwerbsarbeit“ , hinter dem sich vermeintlich die Verteidiger der Verabsolutierung der Erwerbsarbeit versammeln.

Die Diskussion ist bitter notwendig, damit die feministische Diskussion der Arbeit in der Linken ankommt. Die LINKE braucht einen Begriff von Arbeit, der ausdrückt, dass Erwerbsarbeit nicht voraussetzungslos ist, dass sie der privaten Arbeit bedarf, um überhaupt geleistet zu werden, dass Gesellschaft nur entsteht, wenn freiwillige, unbezahlte Arbeit überall geleistet wird, wenn Menschen lernen, gemeinsam mit anderen Ideen und Wege entwickeln, sich an einander reiben und sich zusammentun, und dass in einer Gesellschaft höchst entwickelter Arbeitsteilung jeder Beitrag wichtig ist.

In der Wirklichkeit gilt, wer keine Erwerbsarbeit hat, nichts, oder fast nichts. Er oder sie darf der Grund- und Bürgerrechte beraubt werden. Das Recht auf freie Berufswahl oder das Recht auf freie Wahl des Wohnorts sind faktisch per Gesetz außer Kraft gesetzt, die Würde Arbeitsloser wird ständig angetastet, die Lebenschancen ihrer Kinder werden andauernd beschnitten. Diese Abwertung nicht Erwerbstätiger betrifft nicht nur Menschen im erwerbsfähigen Alter, sie betrifft in abgeschwächter Form auch Rentnerinnen und Rentner, sie betraf – mehr als es aktuell noch der Fall ist – die aussterbende Spezies der Nur-Hausfrauen und sie betrifft weiterhin Studierende oder Behinderte. Sie betraf und betrifft allerdings unter keinen Umständen nicht arbeitende Milliardäre oder adlige, grundbesitzende MüßiggängerInnen.

Und so ist es wenig verwunderlich, dass den Menschen, die nichts haben als ihre Arbeitskraft, um ihr Leben zu fristen, Erwerbsarbeit wertvoll ist, wertvoller als jede andere Arbeit, die nicht gegen Geld getauscht werden kann. Indem sie ihre Arbeitskraft zu Markte tragen, ist ihr Zugang zu der Welt der Waren und käuflichen Dienstleistungen gesichert, ohne die sie in entwickelten kapitalistischen Ländern nicht existieren können. Alle anderen gesellschaftlich wichtigen Arbeiten bringen nichts ein – bestenfalls Ruhm und Ehre. Das Primat der Erwerbsarbeit vor allen anderen Arbeiten existiert nicht per Beschluss oder durch richtige oder falsche Anschauung, sondern aus der Realität der kapitalistischen Produktion und Reproduktion, aus der Herrschaft dieser Produktionsweise über die Lebensverhältnisse der Gesellschaft. Aber das heißt nicht, dass alle anderen Arbeiten weniger wichtig wären, sie können sogar im Einzelnen viel wichtiger sein als manche Erwerbsarbeit..

Was allerdings der Programmentwurf mit der Aussage meint „Die Grundlage für die Entwicklung der Produktivkräfte ist heute und auf absehbare Zeit die Erwerbsarbeit“, darüber kann nur spekuliert werden . Sie steht gänzlich isoliert am Beginn des Absatzes zu Guter Arbeit, worin dann nur die Erwerbsarbeit gesehen wird. Dabei empfinden viele Menschen Arbeit erst dann als gut, wenn sie nicht (mehr) erwerbsmäßig ausgeübt wird. Was meint dieser Satz also anderes, als dass es wichtiger ist, über Erwerbsarbeit zu reden als über andere Arbeit? Ein Satz der in Position gebracht wird gegen die Ansicht von Feministinnen, dass über Erwerbsarbeit nicht geredet werden kann, ohne über alle anderen gesellschaftlichen Arbeiten zu reden?

Er ist im Übrigen so richtig wie falsch. Natürlich ist Erwerbsarbeit die Grundlage für die Entwicklung der Produktivkräfte, aber eben nur eine. Die Produktivkraft menschliche Arbeitskraft hat die private, familiäre Arbeit für sich und andere ebenso zur Voraussetzung wie die Selbstbildung; wichtige berufliche Kompetenzen, das wurde längst wissenschaftlich bestätigt, werden im Ehrenamt erworben. Die immer wichtiger werdende Produktivkraft Wissen oder Wissenschaft ist unmittelbar an Menschen gebunden, ist Eigenschaft des Menschen und in hohem Maße ein Produkt aller menschlichen Tätigkeiten. Selbst in die Entwicklung der technischen Produktionsmittel fließen alle Formen von Arbeit ein.

Interessant sind die unterschiedlichen Schlussfolgerungen, die Feministinnen einerseits und der Entwurf andererseits ziehen. „Einkommen und Vermögen werden durch Arbeit erzeugt und sollen daher entsprechend dem Beitrag zum gesellschaftlichen Arbeitsprozess sowie nach Bedürftigkeit verteilt werden“ – wenn dieser Satz das Gesamt der gesellschaftlich notwendigen Arbeit meint, dann würde das notwendig den Abschied vom rein auf abhängiger Erwerbsarbeit basierenden sozialen Sicherheitssystem bedeuten, also die Diskussion über Grundsicherung oder Grundeinkommen, bedingungslos oder nicht, von der Peripherie der Partei ins Zentrum rücken müssen. Ob sich die Linke darüber im Klaren ist?

Einig ist man sich noch, dass alle Arten von Arbeit gerecht geteilt werden müssen. Bei der damit verbundenen Frage, dass Umverteilung von Erwerbsarbeit, also stärkere Partizipation von Frauen daran, untrennbar mit der Umverteilung von privater, familiärer und gesellschaftlicher Sorgearbeit einhergehen muss, ist diese Einigkeit nicht sicher. Beim rasanten Schwund von Erwerbsarbeit vor allem in den entwickelten kapitalistischen Ländern, stellt sich aber die Frage, wie viel Erwerbsarbeit pro Kopf bleibt, wenn Männer und Frauen, Arbeitende und Arbeitslose die Erwerbsarbeit teilen. Die Feministinnen kommen auf 20 bis 25 Stunden pro Woche, der Entwurf will „perspektivisch eine Obergrenze von 35 Stunden“ anstreben, längerfristig von 30 Stunden. Längerfristig hat also eine längere Perspektive als perspektivisch? Unklar bleibt, wie diese Verkürzung der Arbeitszeit erreicht werden soll, vor allem aber, wie der Lohnausgleich erreicht wird. Denn Arbeitszeitverkürzung wird schon jetzt täglich umgesetzt, durch Abbau von Vollzeitarbeitsplätzen und Umwandlung in Teilzeitbeschäftigung oder Minijobs, diese Form der Arbeitszeitverkürzung betrifft ganz überwiegend Frauenarbeitsplätze, Mit anderen Worten: Frauen teilen die ihnen zugestandene Erwerbsarbeit unter sich auf, eine Umverteilung zwischen Männern und Frauen ist demgegenüber unbedeutend.

Wenn Frauen in der LINKEN die Vier-in-Einem-Perspektive diskutieren, so tun sie dies häufig noch nur in einem nationalen Bezugsrahmen, mit der Perspektive des reichen Nordens. Aber es geht nicht nur um eine gerechte und deshalb gleichmäßige Verteilung der zum menschlichen Leben notwendigen Arbeiten zwischen Männern und Frauen im globalen Norden, in den reichen Industrienationen, es geht auch um die Verteilung zwischen Nord und Süd, es geht nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit, sondern um globale und soziale Geschlechtergerechtigkeit. Dies ist nur möglich, wenn wir die Diskussion um Gute Arbeit mit der um ein Gutes Leben verbinden. Die feministische Perspektive trennt weder die verschiedenen Bereiche der Arbeit noch trennt sie Arbeit von Leben. Wenn die Erwerbsarbeit nicht vom Guten Leben getrennt und auch in der Perspektive der kommenden Generationen und des armen Südens gesehen wird, sind 25 Stunden pro Woche Erwerbsarbeit durchaus realistischer als 35. Denn es gibt keine gute Arbeit und kein gutes Leben in einem System, das Menschen, Lebensgrundlagen und Zukunft zerstört. Im kapitalistischen Prozess der Warenproduktion sind wir alle mit unserer Erwerbsarbeit auch an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen beteiligt. Wachtumswahn gehört zur kapitalistischen Produktionsweise wie der Atem zum Leben und gibt diesem Zerstörungswerk eine ungeheure Dynamik. Wir sitzen nicht nur als Fahrgäste im rasenden Zug auf den Abgrund zu, sondern als Heizer und Heizerinnen. Mit unserer Arbeit produzieren wir lebensnotwendige Güter und Dienste, aber auch Unmengen von Tand, Tötungsmaschinen und Zerstörung. Es lohnt sich also, mit unserer Arbeit sparsam umzugehen, Rüstungsproduktion, Verpackungswahn und Werbeschlachten ebenso auf den Prüfstand zu stellen wie den ausufernden Verkehr. Jede verschwendete Arbeitsstunde ist verschwendete Energie. Ist Zerstörung des Klimas und der Natur für nichts und wieder nichts. Notwendig ist nicht die Anbetung, sondern die Kritik der Erwerbsarbeit in ihrer gegenwärtigen Form. Notwendig sind auch vielfältige Projekte selbst organisierter Erwerbsarbeit, wie sie im Niedergang der Frauenbewegung beispielhaft entstanden sind, Projekte, mit denen wir das Neue ausprobieren, sei es im Rahmen eines öffentlichen Beschäftigungssektors, der Förderung von Genossenschaften, des Volksbildungs- und Weiterbildungssektors, der regionalen Entwicklung, Projekte des Empowerments für Frauen, Jugendliche, MigrantInnen, Ausgegrenzte usw. Der Fantasie dürfen keine Grenzen gesetzt sein. Neben Protest auf der Straße und Bewegungen brauchen wir auch eine Stärkung des Neuen, das sich im Schoße der alten Gesellschaft entwickelt und zum Durchbruch drängt.

Die Vier-in-Einem-Perspektive, die globale Perspektive und die Zukunftsperspektive weisen auf die zentrale Forderung nach radikaler Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit für alle hin. Sie weisen auf die Notwendigkeit des Kampfes für individuell und gesellschaftlich selbstbestimmte Arbeit, für den gleichen Zugang aller zu Erwerbsarbeit, Familienarbeit und Muße hin. Der Kampf für Arbeitszeitverkürzung hat einen besonderen Charme. Die Verkürzung der Arbeitszeit muss sofort auf die Tagesordnung; sie ist eine Reform, die unmittelbare Verbesserungen bringt, die, konsequent verfolgt, in einer radikale Umwälzung der Verhältnisse münden kann und muss.

Sozialistischer Feminismus agiert und argumentiert vom Standpunkt von Frauen in ihrer Unterschiedlichkeit, um die überkommenen patriarchalen Geschlechterverhältnisse umzuwälzen, und stellt, von einem geschlechterkritischen Standpunkt ausgehend, die großen gesellschaftlichen Fragen. Er geht mit einem emanzipatorischen Ziel von den Frauen aus, aber er endet nicht bei den Frauen, sondern bei dem Recht auf Wohlergehen und Entfaltung für alle Menschen. Ein feministischer Standpunkt umfasst deshalb drei Aspekte: einen kritischen Standpunkt, der den überkommenen Geschlechterverhältnissen gilt; einen emanzipatorischen Standpunkt, der eine Beendigung der patriarchalen Dominanzkultur, die Veränderung der Geschlechterrollen und die Selbstveränderung einschließt; und nicht zuletzt einen parteilichen Standpunkt für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten (sozial, kulturell, psychisch). Feministische Politik formuliert nicht Ziele für die Frauen, sondern Ziele für eine menschliche und gerechte (Welt-)Gesellschaft. Die Befreiung aus patriarchaler Abhängigkeit als Selbstbefreiung der Frauen weltweit kann nur als Umwälzung sämtlicher Verhältnisse verstanden werden, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“

Dieser Beitrag wurde unter Feminismus, Mein Herz schlägt links abgelegt und mit , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar